Durch Tbilisis geheime Höfe: Von Rustaweli nach Sololaki

Um Punkt zehn stehe ich unter Schota Rustawelis bronzenem Blick und habe das Gefühl, auf der ersten Seite des Stadt-Epos gelandet zu sein. Unser Guide winkt am Metro-Ausgang, und schon verschwinden wir in einem Bogen, den Pendler meist ignorieren. Der Lärm des Boulevards verklingt, dafür knarrt die hundertjährige Holztreppe im Haus von Evgenia Schchiants. Buntglas wirft Farbflecken, und in der Luft hängt Staub gemischt mit Akazienblüte.

Wir schlagen einen Bogen zurück zum Verkehr, um die Jugendstil-Fassade von Melik Azariant zu betrachten – noch immer flamboyant nach hundert Tbilissi-Wintern. Hinter dem Filmpalast verbirgt sich der Hof des Ökonomen Wassil Gabaschwili: ein zweistöckiger Balkon wie karamellgeschnitzt; im rissigen Brunnen steht eine einzelne Hortensie und hält den Moment fest.

Die Griboedow-Straße sorgt für architektonisches Schleudertrauma: Rokoko-Kurven im Haus Tunibekow, maurische Bögen ein Block weiter und die würdevolle Konservatorium hält alles im Takt. In der Ingorokva steht das alte Cheka-Hauptquartier streng und grau, während Mirza Reza Khans „Diamantpalast“ trotz abplatzendem Putz noch glitzert.

Die Hänge von Sololaki bieten eine letzte Schatzsuche. Ferdinand Otens Eck-Apotheke ist jetzt eine Weinbar, doch die „Drachenschuppen“-Fliesen über der Tür leuchten weiter. Wenige Schritte danach scheint das ehemalige Herrenhaus von Dawit Saradschischwili nach altem Brandy zu duften. Wir enden in einem klassischen „Tbilisi-Hof“ an der Chonkadze: Katzen auf Geländern, flatternde Wäsche, Wendeltreppen wie Reben. Erst an der Metro Liberty kehrt das Großstadtgeräusch zurück.

Zwei Stunden, kein einziges Museumsticket, dafür ein Herz voller Fassaden, die ohne Guide verborgen geblieben wären. Tbilisi erzählt seine Geschichten in Balkonen und Höfen – man muss nur wissen, wo man schaut.